Die Strasse ist gesäumt von Kastanienbäumen, und sie nimmt kein Ende. Ich setze mich auf den Bordstein und schnaufe. Vielleicht könnte ich ein wenig vom Kind essen, ein Fingerchen nur, damit der Hunger vergeht. Ich öffne den Koffer und schlage ihn gleich wieder zu. Dann rupfe ich ein Büschel Gras vom Strassenrand und knabbere daran. Ich lege mich auf den Rücken und sehe in den Himmel. Er ist ganz gelb. (Michelle Steinbeck: Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch)
Michelle Steinbeck liest an der KSR – von Manuel Conrad
Schüchtern wirkt sie, fast unscheinbar. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass man gerade derjenigen jungen Frau gegenübersitzt, die die Schweizer Literaturszene in den letzten Monaten auf den Kopf (oder vom Kopf auf die Füsse?) gestellt hat. Wer eine schrille, egozentrische und laute Persönlichkeit erwartet hat, wird enttäuscht. Michelle Steinbeck will dem Bild der Skandalautorin, welches sich manch einer bereits im stillen Kämmerchen zusammengebastelt hat, nicht richtig entsprechen.
Sie habe einfach etwas vollkommen Anderes ausprobieren wollen, antwortet sie, als sie gefragt wird, wie sie denn auf die Idee zu ihrem Roman gekommen sei. Und nein, Heidenreichs Schelte im Literaturclub habe sie nicht gesehen – so, wie sie den Literaturclub als solches noch nie gesehen habe. Ganz so abgebrüht, so viel gibt sie zu, habe sie dann allerdings doch nicht auf die zahlreichen diesbezüglichen Mitteilungen aus der Verwandtschaft reagiert. Michelle Steinbeck scheint sich wohl zu fühlen an der Kanti, an einem Ort, welchen sie, so heisst es, als Jugendliche nicht immer liebend gern besucht habe. Erwachsenwerden sei etwas vom Besten gewesen, was ihr in den letzten Jahren widerfahren sei, räumt sie denn auch ein: kein frühes Aufstehen mehr, kein tägliches Zur-Schule-gehen.
Ehrlich wirkt sie, authentisch in allem, was sie sagt und erzählt. Wie viel wir nun tatsächlich von der wahren Michelle Steinbeck gesehen haben? Schwer zu sagen. Vielleicht nur ein Fingerchen. Aber, so viel steht fest: Ein neues Buch soll alsbald folgen. Man darf gespannt sein.